Burnout 8: Die existenzialistische Erklärung

Dec 20, 2025

Burnout als Sinnkrise: Ein existenzieller Zugang zu Erschöpfung und Bedeutungslosigkeit

Burnout wird üblicherweise als Stressproblem beschrieben: zu viele E-Mails, zu viele Patienten, zu viele Verantwortlichkeiten. Das ist ein Teil der Wahrheit – aber nicht der tiefste.
Aus existenzphilosophischer Sicht geht es bei Burnout weniger darum, „zu beschäftigt“ zu sein, sondern vielmehr darum, nicht mehr innerlich berührt zu sein von dem, womit man beschäftigt ist. Es ist ein wachsendes Gefühl, dass all das eigentlich gar keine Bedeutung mehr hat.

Dieser Artikel untersucht den existenzialistischen bzw. sinnzentrierten Zugang zu Burnout – die Idee, dass Burnout entsteht, wenn Menschen das Gefühl von Sinn, Zweck oder persönlicher Übereinstimmung in ihrem Leben und Arbeiten verlieren. Der Fokus liegt auf:

  • dem existentiellen Vakuum (Viktor Frankls Begriff für chronische Sinnentleerung)
  • Burnout als Ausdruck der Entfremdung von eigenen Werten
  • und den Konsequenzen dieser Sichtweise für das Verstehen, Verhindern und Behandeln von Burnout

Am Ende findest du eine Auswahl relevanter Bücher und wissenschaftlicher Artikel.

  1. Klassisches Burnout vs. existenzielles Burnout

Die meisten psychologischen Modelle definieren Burnout als arbeitsbezogenes Syndrom, das durch drei Komponenten gekennzeichnet ist:

  1. Emotionale Erschöpfung
  2. Zynismus oder Depersonalisation (Gefühlsabstumpfung, Distanzierung, „Wozu überhaupt?“)
  3. Reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit (Gefühl von Ineffektivität, Sinnlosigkeit oder Inkompetenz)
    (vgl. Maslach, Schaufeli & Leiter 2001)

Die Forschung verbindet Burnout stark mit chronischen Arbeitsstressoren wie hohen Anforderungen, geringer Autonomie, mangelnder Fairness, fehlender Unterstützung und Rollenkonflikten.

Doch verschiedene Forschungsrichtungen betonen, dass viele Betroffene nicht nur müde sind – sie sind existentiell desorientiert. Sie sagen Dinge wie:

  • „Ich sehe den Sinn nicht mehr.“
  • „Meine Arbeit fühlte sich früher wichtig an, jetzt ist sie nur noch leer.“
  • „Selbst freie Tage helfen nicht – die innere Leere bleibt.“

Qualitative Studien beschreiben Burnout als Zustand, in dem Menschen sowohl Energie als auch ihr Gefühl für den Wert und die Bedeutsamkeit ihrer Tätigkeit verlieren (Schaufeli 2009).
Neuere Arbeiten schlagen gar vor, Burnout als spezielle Form des existentiellen Vakuums oder der existentiellen Unerfülltheit zu verstehen (Riethof & Mainerova 2019).

Aus existenzieller Sicht bedeutet Burnout daher nicht nur:

„Ich kann nicht mehr.“

Sondern auch:

„Ich weiß nicht mehr, warum ich weitermachen sollte.“

  1. Das existentielle Vakuum: Wenn Sinn aus dem Leben fällt

Frankls Konzept

Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, prägte den Begriff existentielles Vakuum, um einen weit verbreiteten Zustand innerer Leere, Langeweile und Sinnlosigkeit in der modernen Welt zu beschreiben.

Er sah dies gekennzeichnet durch:

  • Verlust von Interesse und Initiative
  • das Gefühl, dass dem Leben eine Richtung oder ein „Warum“ fehlt
  • Tendenzen zu Apathie, Langeweile und manchmal Verzweiflung

Aus dieser Sicht werden Menschen nicht primär von Lust (Freud) oder Macht (Adler) motiviert, sondern vom „Willen zum Sinn“ – dem tiefen Verlangen, ein Leben zu führen, das sich bedeutsam anfühlt.
Wenn dieser Wille blockiert oder frustriert wird, entsteht das existentielle Vakuum.

Burnout als Ausdruck dieses Vakuums

Mehrere Autoren und Studien verknüpfen Burnout explizit mit diesem Phänomen:

  • Längle (2003) beschreibt Burnout als „besondere Form des existentiellen Vakuums“: äußerlich besteht Engagement, innerlich bricht Erfüllung weg.
  • Loonstra et al. (2009) zeigen empirisch, dass geringe existentielle Erfüllung mit höherem Burnout zusammenhängt.
  • Riethof (2019) interpretiert Burnout logotherapeutisch als Verlust von Lebenssinn und Erfüllung – nicht bloß als Reaktion auf Arbeitsstress.

In einfachen Worten:

Burnout passiert, wenn man sich weiterhin verausgabt – aber für etwas, das nicht mehr mit der eigenen Identität oder dem, was einem wichtig ist, verbunden ist.

Selbst wenn die ursprüngliche Ursache Stress ist, wird der Kern zunehmend:

„Wozu das alles?“ – nicht „Ich habe zu viel zu tun.“

  1. Entfremdung von Werten: Wenn Arbeit sich nicht mehr wie deine anfühlt

Aus existenzieller Perspektive ist Sinn nichts Abstraktes. Er ist tief persönlich.
Eine Tätigkeit kann für die eine Person bedeutungsvoll sein – und für eine andere lähmend.
Sinn entsteht, wenn Werte und Handlungen im Einklang stehen.

Werte als Anker des Sinns

Werte sind Qualitäten des Lebens und Handelns, die dir besonders wichtig sind:

  • Beitrag
  • Kreativität
  • Autonomie
  • Gerechtigkeit
  • Mitgefühl
  • Wachstum
  • Schönheit
  • Verbundenheit

Wenn diese Werte im Alltag Ausdruck finden, fühlen wir uns lebendig und authentisch.
Wenn nicht, erleben wir Entfremdung, selbst wenn der Job objektiv attraktiv ist.

Wertkonflikte als Burnout-Treiber

Forschung zeigt klar: Wertkonflikte gehören zu den stärksten Prädiktoren für Burnout.
Sie entstehen, wenn Menschen gezwungen sind, gegen ihre Überzeugungen zu handeln oder Tätigkeiten auszuführen, die ihren inneren Prinzipien widersprechen.

Beispiele:

  • Gewinnmaximierung wird über Fürsorge gestellt.
  • Bürokratie verhindert echte pädagogische Arbeit.
  • Kreativität wird von Reichweitenlogiken verdrängt.

Burnout beginnt oft mit Stress – aber es wird existenziell, wenn die Person erkennt:

„Es ist nicht nur anstrengend. Es ist nicht das, woran ich glaube.“

Dann hilft Erholung nur noch oberflächlich. Die Fehlpassung bleibt.

  1. Die Phänomenologie des existenziellen Burnouts

Existentielles Burnout fühlt sich anders an als einfache Müdigkeit. Typische innere Erfahrungen:

  1. Leere statt Erschöpfung

Menschen sagen, sie fühlen sich „ausgehöhlt“, „wie eine Hülle“ oder „auf Autopilot“.
Sie funktionieren – aber ohne innere Beteiligung.

  1. Zynismus als Schutzmechanismus

Zynismus macht unempfindlich gegenüber der Enttäuschung, dass etwas Bedeutungsvolles verloren gegangen ist.
Er schützt vor der Frage: „Wenn das alles nicht zählt – was dann?“

  1. Selbstentfremdung

Die Handlung fühlt sich nicht mehr nach eigener Entscheidung oder Identität an.
„Ich erkenne mich nicht wieder.“

  1. Verlust von Zukunftsbildern

Ziele erscheinen leer oder fremdbestimmt.
Es entsteht ein Gefühl von „Feststecken“.

  1. Moralischer und spiritueller Schmerz

Vor allem in helfenden Berufen wird Burnout oft als moral injury erlebt:
Das Empfinden, nicht mehr so handeln zu können, wie es den eigenen Werten entspricht.

Diese Merkmale erklären, warum existenzielles Burnout Depression ähneln kann – aber anders gelagert ist: Es betrifft vor allem die Bedeutsamkeit der Arbeit, nicht das gesamte Gefühlsleben.

  1. Mechanismen: Wie Sinn erodiert – und Burnout entsteht

5.1. Chronische Diskrepanz zwischen Werten und Realität

Wenn Menschen ständig:

  • gegen ihre Werte handeln müssen, oder
  • ihre Werte nicht leben dürfen

…entsteht innere Dissonanz.
Wird diese zum Dauerzustand, entwickelt sich Resignation und schließlich Zynismus.

5.2. Instrumentalisierung des Selbst

Moderne Arbeitswelten machen den Menschen zur „Ressource“.
Viele internalisieren das und denken:

  • „Ich muss einfach weiter produzieren.“
  • „Mein Wert ist mein Output.“

Dann wird Identität leistungsabhängig – und dadurch fragil.

5.3. Verlust narrativer Kohärenz

Sinn entsteht auch durch die Fähigkeit, eine stimmige Geschichte über das eigene Leben zu erzählen.

Burnout tritt oft auf, wenn:

  • frühere Lebensnarrative („Wenn ich hart arbeite, werde ich erfüllt sein“) nicht mehr tragen
  • berufliche Meilensteine keine innere Befriedigung bringen
  • äußere Zwänge die ursprüngliche Berufung verzerren

Wenn die alte Geschichte zerbricht und keine neue entsteht, entsteht ein existenzielles Vakuum.

  1. Warum die existenzielle Sicht wichtig ist: Konsequenzen für Prävention und Behandlung

6.1. Die Grenzen von Erholung und Resilienztraining

Klassische Empfehlungen wie Pausen, Self-Care oder Achtsamkeit sind hilfreich, lösen aber nicht das Kernproblem, wenn dieses lautet:

„Meine Arbeit ist nicht mehr im Einklang mit meinen Werten.“

Ein verlängertes Wochenende kann Energie zurückgeben –
aber nicht den verlorenen Sinn.

6.2. Existenzielle und logotherapeutische Interventionen

Ansätze aus Existenztherapie und Logotherapie betonen:

  1. Sinn- und Werteklärung
    Was ist wirklich wichtig? Welche Werte sind geerbt, welche gewählt?
  2. Freiheit und Verantwortung
    Zwischen Reiz und Reaktion liegt Frankls berühmter Raum der Freiheit.
    Burnout kann bedeuten, Verantwortung für unbequeme Entscheidungen zu übernehmen.
  3. Neu-Schreiben der eigenen Lebensgeschichte
    Burnout wird zum Wendepunkt, nicht zum Scheitern.
  4. Förderung existenzieller Erfüllung
    Mehr Sinn stärkt emotionale Resilienz und senkt Burnout-Risiken.

6.3. Wertebasiertes Job Crafting und Systemveränderung

Dazu gehören:

  • Aufgaben so gestalten, dass sie Werte widerspiegeln
  • Grenzen setzen
  • Organisationen so verändern, dass Sinn sichtbar wird

Ohne strukturelle Veränderungen bleibt Therapie sonst ein Werkzeug, um das Unerträgliche ertragbar zu machen – statt Wege zu echter Veränderung zu öffnen.

  1. Praktische Reflexionsfragen für Betroffene

Existenzielle Burnout-Arbeit heißt: ehrliche Selbstbefragung.

  1. Woher kam mein ursprünglicher Sinn in dieser Arbeit?
  2. Welche Werte leben in mir am stärksten – und wo kommen sie im Alltag vor?
  3. Welche innere Haltung wäre möglich, selbst wenn äußere Umstände gleich blieben?
  4. Was vermeide ich durch meine Gleichgültigkeit oder meinen Zynismus?
  5. Welche Entscheidung würde mein zukünftiges Ich als mutig und richtig ansehen?

Diese Fragen ersetzen keine Therapie – aber sie öffnen den Weg zu mehr Klarheit.

  1. Fazit: Burnout als Ruf nach Sinn

Der sinnzentrierte Zugang versteht Burnout nicht als Versagen der Belastbarkeit, sondern als Signal:

Etwas an deinem Leben oder Arbeiten ist nicht mehr im Einklang mit deinen tiefsten Werten.

Burnout kann schmerzhaft sein – und zugleich transformativ.
Es kann das Ende eines funktionalen, aber nicht wirklich bedeutungsvollen Lebensabschnitts markieren.
Und es kann der Beginn eines Weges sein, der authentischer, ehrlicher und erfüllender ist.

Burnout sagt nicht nur: „Du bist müde.“
Es kann sagen:

„Du bist vom Weg abgekommen. Es ist Zeit, wieder herauszufinden, wofür du lebst.“

Ausgewählte Literatur

Bücher (allgemein & existenziell/logotherapeutisch)

  • Frankl, V. E. (2006). Man’s Search for Meaning. Beacon Press.
  • Frankl, V. E. (1978). The Unheard Cry for Meaning: Psychotherapy and Humanism. Simon & Schuster.
  • Yalom, I. D. (1980). Existential Psychotherapy. Basic Books.
  • Längle, A. (2013). The Search for Meaning in Life and the Existential Fundamental Motivations. In A. Batthyány (Hrsg.). Springer.
  • Maslach, C., & Leiter, M. P. (1997). The Truth About Burnout. Jossey-Bass.
  • van Deurzen, E. (2012). Existential Counselling & Psychotherapy in Practice. Sage.

Wissenschaftliche Artikel

  • Riethof, N., & Mainerova, B. (2019). Burnout Syndrome and Logotherapy. Frontiers in Psychiatry.
  • Längle, A. (2003). Burnout – Existential Meaning and Possibilities of Prevention. European Psychotherapy, 4(1), 107–121.
  • Loonstra, B., Brouwers, A., & Tomic, W. (2009). Feelings of existential fulfilment and burnout among secondary school teachers. Teaching and Teacher Education.
  • Engebretsen, K. M., & Bjorbækmo, W. S. (2020). Burned out or “just” depressed? Journal of Evaluation in Clinical Practice.
  • Maslach, C., Schaufeli, W. B., & Leiter, M. (2001). Job burnout. Annual Review of Psychology.
  • Schaufeli, W. B. (2009). Burnout: 35 years of research and practice. Career Development International.
  • Gawda, B. (2024). The protective role of curiosity behaviors in coping with existential vacuum. Behavioral Sciences.